Industrie 4.0 und neue Arbeitsorganisationen

Eines der Versprechen von Industrie 4.0 ist die Selbstorganisation der Fertigung. Ein Produkt weiß jederzeit über sich selbst Bescheid und was als nächstes mit ihm geschehen soll. Aufträge laufen automatisch durch den Betrieb. Die Fertigungsprozesse werden kundenspezifisch dynamisch angepasst. Die Maschinen kommunizieren selbständig miteinander. Sie handeln aus, welche von ihnen den nächsten Produktionsschritt wann übernimmt. Eine Künstliche Intelligenz meldet, wenn sich ein Problem ankündigt. Es gibt bereits viele spannende und interessante Beispiele, Prototypen und Konzepte, bei denen diese und andere Ideen demonstriert werden. Doch obwohl eine Grundlage von Industrie 4.0 – die Kombination von Technik, Organisation, Mensch – bereits seit Jahren in Aufsätzen, Literatur und auf allen einschlägigen Veranstaltungen kommuniziert und in Forschungsprojekten bearbeitet wird, wird der Mensch in der Praxis und in den Unternehmen immer wieder vergessen.

Verantwortung

Das Management und die Führungskräfte sprechen davon, dass die Menschen mehr Verantwortung übernehmen sollen. Im Idealfall sind ab sofort alle “Unternehmer im Unternehmen”. Also wirft die Führungskraft dem Mitarbeiter eine Aufgabe hin, sagt ihm, dass er ab sofort dafür verantwortlich ist und das war’s. Einige Zeit später wundert sie sich, warum die Aufgabe nicht in der Art und Weise umgesetzt wurde, wie sie sich das gedacht hat. Dann grätscht sie rein, kritisiert, korrigiert, räumt Hindernisse aus dem Weg und demonstriert so dem Mitarbeiter, dass sie es eben doch besser kann. Noch schlimmer wird es, wenn ein Fehler passiert. Statt nach der Ursache zu suchen, wird der Fehler schnell vom Vorgesetzten gelöst und dann die Fehleranalyse abgeschlossen, sobald der Schuldige identifiziert wurde. Die Erkenntnisse, die daraus gewonnen werden, sind dann in der Regel solche Dinge wie: “Wir haben die falschen Mitarbeiter!”, “Die können das nicht!” oder ganz typisch: “Bei uns geht das nicht!”.

Die falschen Mitarbeiter?

In vielen Gesprächen mit anderen Menschen aller Rollen und aus den unterschiedlichsten Unternehmen höre ich genau solche Aussagen immer wieder. Wenn ich dann anfange zu erzählen, dass wir vor mittlerweile fast drei Jahren begonnen haben, unser Unternehmen komplett auf den Kopf zu stellen, werde ich häufig nur müde belächelt. Da wir ja Software machen, ist das ja wohl kein Problem, mit den Programmierern eine agile Transformation durchzuführen, die arbeiten doch sowieso alle agil. In einer solchen Aussage verbergen sich nach meiner Erfahrung gleich mehrere Trugschlüsse.

Zum ersten haben wir natürlich nicht nur Programmierer. Wir haben Mitarbeiter in Marketing, Vertrieb, Projektmanagement, Produktmanagement, Entwicklung, Support und Administration. Wir haben vom 17-jährigen Azubi bis zum Kollegen im Rentenalter sämtliche Altersgruppen. Wir haben Mitarbeiter, die schon dreißig Jahre in unserem Unternehmen sind. Wir haben vom ungelernten Autodidakten bis zum promovierten Informatiker alle Arten von Ausbildungen. Es ist keineswegs so, dass allen solche Veränderungen leicht fallen. Kurzum, bei uns arbeiten genau solche Menschen wie in allen anderen Unternehmen auch.

Zweitens bedeutet agiles Arbeiten nicht einfach nur ein paar agile Methoden in der Entwicklung einzuführen. Es geht um wesentlich mehr. Es geht um gute Zusammenarbeit, Selbstorganisation, Kommunikation und dutzende andere Überschriften, die alle ihren Anteil an solchen Veränderungen haben.

Und schließlich lässt sich eine solche Veränderung nicht einfach verordnen, egal um was welche Art von Unternehmen und Typen von Mitarbeitern es sich handelt. Genau hier scheitern die meisten Ansätze. Da geht das Management auf eine Unternehmerreise ins Silicon Valley (oder auch in die Berliner Startup-Szene). Danach ziehen sie die Krawatten aus, kaufen einen Kicker und etablieren die Möglichkeit zum Homeoffice. Dann duzen sich ab sofort noch alle und die Führungskräfte müssen sich auf die Fläche zu ihren Mitarbeitern setzen. Und natürlich dürfen sie nicht vergessen, dass sie noch eine E-Mail “Ab sofort sind wir alle agil!” an die komplette Belegschaft schreiben. Hurra!

Und schließlich gibt es bereits über alle Branchen und Unternehmensgrößen hinweg genügend Beispiele, wie solche Veränderungen erfolgreich umgesetzt werden können. Es muss nur jeder seinen eigenen Weg finden und nicht versuchen, solche Beispiele einfach nur zu kopieren.

Vermeintliche Lösungen

Doch zurück zur Industrie 4.0. Wir haben also jetzt oder in Zukunft eine selbstorganisierte Fertigung. Nach wie vor haben wir jedoch immer noch hierarchisch-tayloristische Strukturen in der Organisation. Doch wenn ich es mit Komplexität, Dynamik, kundenindividuellen Prozessen, und Losgröße 1 zu tun habe, verhindert eine solche Organisation die notwendige Flexibilität die es braucht, um auf unvorhergesehene Ereignisse zu reagieren. Tritt ein solches Ereignis ein und muss dann über die gesamte Hierarchie nach oben und die getroffene Entscheidung dann wieder nach unten delegiert werden, passiert genau das, was eben nicht mehr passieren soll. Verzögerungen durch Wartezeiten, mehrfache Korrekturschleifen in den Prozessen, fehlerhafte Entscheidungen, da der Entscheider gar nicht über alles Bescheid weiß und das Erfahrungswissen der Mitarbeiter wird nicht genutzt. Eine naheliegende Idee ist dann in vielen Fällen die Einführung eines MES-Systems. Das kann das ja alles. Informationen sammeln, aggregieren, optimieren in Dashboards anzeigen und vieles mehr. Doch was nützt eine solche mächtige Software, wenn der Mitarbeiter an der Maschine nur schauen aber nicht entscheiden und handeln darf?

Denken und Handeln wieder zusammenführen

Es erscheint daher einleuchtend, dass wir die Organisationen in gleicher Weise umbauen müssen, wie wir das in den I40-Konzepten gelernt haben. Denken und Handeln werden wieder zusammengeführt und ermöglichen so eine ganzheitliche Veränderung. Nutzen von vorhandenem Wissen und Erfahrung der Mitarbeiter. Orientierung und Sicherheit durch gemeinsame und bekannte Ziele. Schnelle Kommunikation und Abstimmung zwischen den Mitarbeitern. Befähigung zur Entscheidung durch Vertrauen, Transparenz und Unterstützung auf allen Ebenen. Werden diese Gedanken in die Tat umgesetzt, wird Industrie 4.0 nicht mehr nur den Maschinen sondern auch den Menschen gerecht. In vielen Fällen erzeugt eine größere Identifikation mit dem Unternehmen bessere Ergebnisse, größere Zufriedenheit und Freude an der Arbeit. Und so ganz nebenbei auch das Potenzial, sich in Richtung einer Null-Fehler-Produktion zu entwickeln.

Wie eine solche Veränderung funktionieren kann, was dazu notwendig ist, welche Hindernisse und Stolpersteine es gibt und wie Sie diese meistern können, beschreibt unser Buch “Auf geht’s! – Wie etablierte Unternehmen mit agilem Denken und Handeln neu durchstarten können.”. Es erzählt die Geschichte der Transformation meines Unternehmens – der Pickert & Partner GmbH, das erfolgreich den Wandel von einem klassisch organisierten Unternehmen hin zu einer agil denkenden und handelnden Organisation vollzogen hat.