Kai – „Veränderung“
Zen – „zum Besseren“
Eine allzu eingängliche Erfolgsformel, die genauso einfach wie logisch erscheint, heißt Kaizen. Seit Jahren fester Bestandteil jedes Beratungsprojektes und einer der Top-Favoriten im Bullshit Bingo. Zugegeben, Kaizen ist ein alter Hut. Und trotzdem gibt es wenige so gute Grundideen, die regelmäßig so grandios scheitern wie die zahlreichen Versuche der sogenannten kontinuierlichen Verbesserung.
Japan
Doch woran liegt das? Halten wir uns also vor Augen wo die Idee der kontinuierlichen Verbesserung herkommt und in welcher Kultur sie geboren wurde. In der Geschichte Japans finden sich zahlreiche Beispiele einer ganz speziellen Kultur.
- Während des zweiten Weltkriegs verbreitete die japanische Armee Angst und Schrecken, weil sie Soldaten fand, die bereit waren sich selbst zu opfern, um die drohende Niederlage noch abzuwenden.*
- Im Japanischen gibt es das Wort Karoshi, das den plötzlichen Tod aufgrund von Überarbeitung bezeichnet. Keineswegs ein theoretisches Phänomen, sondern in Japan offiziell anerkannt. In speziellen Kliniken werden vom Karoshi gefährdete Menschen gezielt behandelt und dennoch kommt es regelmäßig zu plötzlichen Todesfällen durch Überarbeitung.
- Und nicht zuletzt Seppuku – eine Art Freitod, durch den ein Mann, der sein Gesicht verloren hat seine Ehre wiederherstellen kann.
Kaizen stammt also aus einer Kultur die gekennzeichnet ist von Präzision, Ergebenheit und zwanghaftem Pflichtbewusstsein. Ein respektvoller, äußerst vorsichtiger Umgang mit seinem Gegenüber ist die logische Folge. Dies wiederum führt zu einem ganz speziellen Umgang mit Fehlern und Kritik. Die Mitarbeiter in japanischen Unternehmen wollen – genau wie die Mitarbeiter von Unternehmern in allen anderen Teilen der Welt – gute Arbeit leisten. Und genauso wie alle anderen, sind sie dafür auf gelingende Zusammenarbeit angewiesen.
Wenn nun doch Fehler passieren, dann ist es nur logisch, dass man sich im Sinne des Kaizen gemeinsam Gedanken macht, wie ein solches Arbeitsergebnis in Zukunft verbessert werden kann. Und zwar ohne sein Gegenüber bloß zu stellen oder den Gesichtsverlust zu riskieren. Der Fokus auf die Zukunft ist also sehr naheliegend, denn alles was in der Vergangenheit kramt erhöht die Gefahr des Gesichtsverlusts für irgendeinen Beteiligten.
Kurzum, die Japaner haben sich nie so viel Gedanken über Kaizen gemacht wie wir. Für die ist es keine ausgeklügelte Methode – nein, sie können gar nicht anders!
Europa
Nun nach Europa. Mit vielen neuen Ideen im Kopf kamen Top-Manager aller DAX-Konzerne zurück aus den Produktionshallen Toyotas. Mit europäischer Präzision wurden die Beobachtungen, die auf einer komplexen Kultur fußen, in komplizierte Konzepte, Methoden und Rezepte gegossen.
Nun schien es nur noch eine Frage der Umsetzung. Und das Befolgen guter Rezepte konnte ja nun wirklich nicht mehr sonderlich schwierig sein. Doch leider hatten alle nur beobachtet WAS die Leute dort tun und keiner hatte sich die Frage gestellt WARUM sie es tun. Denn spätestens dann wäre aufgefallen, dass Kaizen für unsere Kultur alles andere als normal ist.
Im Gegensatz zu Japan ist unsere Kultur extrem individualistisch. Mit einem darwinistischen Verständnis von Stärke und einer Geringschätzung von Verletzlichkeit und Würde. Mit einem rationalen, technischen Selbstverständnis, in welchem alles erklärbar und logisch ist. Und einem Forscherdrang, der alles ergründen und verstehen will.
Auf dieser Grundlage gehen wir ganz anders mit Problemen in der Zusammenarbeit um. Viel direkter, viel konfrontativer, viel investigativer. Mit viel Energie bei der Fehleranalyse und einem stechenden Blick in die Vergangenheit. Wir wollen es ja verstehen, wir wollen die Ursache finden. Wir arbeiten mit starken Charakteren, die Kritik aushalten können. Gesichtsverlust ist für uns ein Wort, das wir benutzen, wenn wir über Vergehen sprechen die mit fünf und mehr Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden.
Kontinuierliche Verbesserung im Sinne des Kaizen funktioniert bei uns nicht. Meist bleibt es bei einem nervigen Suchen nach Fehlern. Jeder ist darauf bedacht zu erklären, warum er nicht schuld sein kann. Alle versuchen irgendeinen Schuldigen zu finden. Weil wir für alles klare Regeln und Prozesse haben und weil wir Weltmeister im Definieren von Verantwortlichkeiten sind, ist unsere Suche nach dem Schuldigen auch recht erfolgreich. Sobald dieser gefunden ist, verweisen wir auf bestehende Prozesse und Regeln. Wir mahnen diese in Zukunft gewissenhafter zu befolgen. Von kontinuierlicher Verbesserung bleibt so wenig übrig.
Ein Versuch der Lösung
Wenn wir an der guten Grundidee der kontinuierlichen Verbesserung festhalten wollen, dann müssen wir uns fragen, wie wir diese mit und nicht gegen unsere kulturelle Prägung umsetzen können. Zwei gute Grundvoraussetzungen bringen wir schon mit. Wir sind sehr analytisch und haben einen hohen Anspruch an die Qualität unserer Arbeit. Was wir jedoch auflösen müssen, wenn wir wirklich verbessern wollen ist die Verortung der Verantwortung an einzelnen Personen. Denn solange wir Verantwortung an einzelnen Personen festmachen, haben wir kein gemeinsames Problem.
Wenn wir miteinander in einen konstruktiven Lösungsdialog eintreten wollen, dann gelingt uns das nur zu Problemstellungen die wir in unserer Mitte verorten. Also für Probleme für die es keinen alleinigen Verantwortlichen gibt. Nicht im Organigramm und nicht im Prozess.
Gemeinsamkeit kann nicht hergestellt werden, indem sich der Chef vor seine Mitarbeiter stellt und diese auffordert gemeinsam über mögliche Verbesserungen nachzudenken. Gemeinsame Verantwortung muss Teil der gelebten, alltäglichen Praxis werden.
Dazu müssen wir aber auch Arbeit ganz anderes verteilen. Nicht zentral und per Anordnung, sondern autonom und selbstgesteuert. Nicht abgeleitet aus Prozessen, Routinen und Vorlieben, sondern aus Sicht des Unternehmens und des Kundennutzens. Nur so sind Mitarbeiter gemeinsam verantwortlich für das Gesamtergebnis und nicht einzeln für die Erfüllung einer Teilaufgabe.
Kaizen ist also nicht nur eine tolle Grundidee, sondern auch ein echter Mehrwert – wenn wir beachten wer wir sind und woher wir kommen. Und wenn wir wieder einmal auf die Idee kommen uns in anderen Teilen der Erde inspirieren zu wollen, dann sollten wir viel eher mit der Frage WARUM dort hinreisen und die Frage WAS zuhause lassen.
*die ursprüngliche Formulierung lautete: „Während des zweiten Weltkriegs waren die Japaner in der Lage den eigentlich unerreichbaren Hafen von Pearl Harbour anzugreifen, weil sie Soldaten fanden, die sich samt Ihrer Flugzeuge in den Tod stürzten.“ Diesen Satz änderten wird, nachdem wir von einem unserer Leser darauf hingewiesen wurden, dass Kamikaze Piloten erst gegen Ende des Krieges eingesetzt wurden und nicht am Angriff auf Pearl Harbour beteiligt waren.